Geschichte der Technologie, Geschichte der Exponentialität
Das menschliche Gehirn denkt in erster Linie linear und so fällt es sehr schwer, die Exponentialfunktion zu begreifen. Diese beschreibt einen Wachstums- oder Schrumpfungsprozess, bei dem eine Menge sich in gleichen Zeitabschnitten um denselben Faktor vervielfacht oder verringert. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass die Rate des Wachstums oder des Rückgangs selbst proportional zur aktuellen Menge im jeweiligen Zeitabschnitt ist. Schwer zu begreifen sind dabei die Wachstumsgeschwindigkeit, die anfangs vernachlässigbar erscheint, aber im weiteren Verlauf immense Ausmaße annehmen kann, und die schiere Menge, die nach einer gewissen Zeit exponentiellen Wachstums entsteht.
Trotz unseres schlechten Verständnisses begegnen wir exponentiellen Entwicklungen tagtäglich, so z.B. radioaktiver Zerfall, Wachstumsprozesse durch Zellteilung, Zinseszinseffekt auf dem Bankkonto, Ausbreitung von Pandemien oder Bevölkerungswachstum. Nachdem die Menschheit bis ins frühe 19. Jahrhundert gebraucht hat um 1 Mrd. zu überschreiten sind seitdem über 7 Mrd. Menschen hinzugekommen. [1]
Dieses immense Wachstum wurde nicht zuletzt durch technologischen Fortschritt ermöglicht, der sich ebenfalls exponentiell entwickelt. Von über 200.000 Jahren Existenz als Spezies beherrschen wir erst ca. 10.000 Jahre Ackerbau und Viehzucht, das Rad wurde vor etwa 6.000 Jahren erfunden.
Praktisch alle technologischen Errungenschaften, die wir heute für selbstverständlich erachten, wurden angespornt durch die Aufklärung und die Hinwendung zu Vernunft und wissenschaftlicher Methode. Diese sind daher nicht älter als 250 Jahre, angefangen bei fließend Wasser in Häusern, Elektrizität oder Penicillin. [2] Leistungsfähige Produktions- und Logistikketten ermöglichen zudem eine immer schnellere Diffusion von neuen Technologien. [3]
Nicht nur gefühlt, sondern auch im historischen Kontext finden heute also immer mehr und immer schneller massive Umbrüche für ganze Märkte und Technologieklassen statt, nicht nur durch globale exogene Schocks, sondern auch durch schnelllebige, immer komplexer werdende Technologien und Wertschöpfungsketten, wie zuletzt die Durchbrüche bei künstlicher Intelligenz. Brynjolfsson und McAfee beschreiben in ihrem Buch dazu eine Parabel [4]:
Der Erfinder des Schachspiels erhält von seinem Herrscher für die Idee eine Belohnung seiner Wahl. Dieser bittet um die Menge Reis, die auf dem 64. Feld des Schachbretts liegt, wenn auf das erste Feld ein Reiskorn gelegt wird, auf das zweite zwei und auf jedes weitere Feld doppelt so viel wie auf das Vorherige. Als der Herrscher feststellt, dass er dem Erfinder ca. 18 Trillionen Körner Reis schuldet, zieht er es vor, ihn zu enthaupten. [5]
Die Autoren nutzen das Beispiel nicht nur wegen der – dank Exponentialität – unvorstellbaren Menge auf dem 64. Feld, sondern auch, um das Wachstum zu verdeutlichen, das mit jedem Feld an Geschwindigkeit zunimmt. Insbesondere auf der zweiten Hälfte des Schachbretts nehmen die Sprünge von Feld zu Feld immense Ausmaße an [6]. Das erste Feld der zweiten Hälfte des Schachbretts allein enthält mehr Reiskörner als die gesamte erste Hälfte. Sie vermuten, dass wir gerade dabei sind mit unseren technologischen Entwicklungen die zweite Hälfte des Schachfelds zu betreten und mit bahnbrechenden Veränderungen in immer unvorstellbareren Ausmaßen rechnen müssen.
Klassische Unternehmensstrukturen stehen nicht zuletzt vor diesen Hintergründen in der Kritik nicht flexibel, resilient und anpassungsfähig genug zu sein. Im Innovationskontext wird bereits seit vielen Jahren von „disruptiven Innovation“ gesprochen, bei denen bisher unbedeutende Unternehmen in einer vom Marktführer unbeachteten Nische mit einem komplett neuartigen Wertversprechen heranwachsen, mit dem sie am Ende auch die Kernmärkte übernehmen und den Marktführer verdrängen. Um die Stichhaltigkeit der Kritik besser einschätzen zu können, sollte zunächst die Herkunft aktuell vorherrschender Unternehmensstrukturen besprochen werden.
Der US-amerikanische Ingenieur Frederick Winslow Taylor setzte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erstmalig die wissenschaftliche Analyse von Arbeitsprozessen ein, mit dem Ziel die Effizienz von Management, Arbeit und Unternehmen insbesondere in der industriellen Produktion zu maximieren. Das damit begründete Prinzip des Taylorismus oder Scientific Management fand viel Anklang, sicherlich auch durch die zahlreichen positiven Wechselwirkungen mit damals aufkommender Industrialisierung, Massenfertigung und Fabrikarbeit. Insbesondere durch die berühmte Fließbandproduktion des Model T bei Ford entstand der Eindruck, beim Taylorismus ginge es nur um die Produktion. Das Konzept war und ist allerdings ganzheitlich und schreibt ebenso detaillierte Regeln für das Büro und die Unternehmensorganisation allgemein vor. Auch heute, über 100 Jahre später, weisen Unternehmensstrukturen vielfach noch tayloristische Artefakte auf und stellen mechanistische Themen wie Arbeitsteilung, Spezialisierung und Bürokratie in den Vordergrund [7].
Die zunehmende Komplexität in allen Bereichen erschwert allerdings zunehmend sinnvolle Arbeitsteilung, im Gegenteil findet ein Großteil der Innovationen sogar nur noch an Schnittstellen statt. Spezialisierung macht angreifbar durch immer mehr systemkritische Punkte, die für den Fortbestand eines Unternehmens unerlässlich sind, die aber jederzeit dem exponentiellen technologischen Fortschritt zum Opfer fallen können [8]. Auf der zweiten Hälfte des Schachbretts scheinen die tayloristischen Paradigmen nicht mehr vollumfänglich zu funktionieren. Sie wurden in einer stetigeren Zeit entwickelt, in der noch schwach ausgeprägte Exponentialität mit Linearität verwechselt werden konnte.
Gleichzeitig waren die Erkenntnisse von Taylor und seinen Nachfolgern so prägend, dass sie heute tief in der DNA des unternehmerischen Denkens, Lehrens und Forschens verwurzelt sind. Sie sind noch an vielen Stellen selbstverständlich und können nur unter großen Mühen identifiziert und hinterfragt werden. Ansätze wie Agilität, New Work, Ambidextrie oder Resilienz scheinen erste Schritte weg von tayloristischen Paradigmen zu sein, tun sich aber schwer in der Breite Fuß zu fassen.
Zur Umsetzung der Ambidextrie beispielsweise werden in der Literatur bisher hauptsächlich organisatorisch differenzierende Ansätze vorgeschlagen, wie die zeitliche, kontextuelle oder strukturelle Trennung von Exploration und Exploitation [9], also die Umsetzung innerhalb tayloristisch geprägter starrer hierarchischer Konstrukte. Der vielversprechende Forschungszweig der individuellen Ambidextrie hat das Potential hier einen wertvollen Beitrag zu leisten, ist allerdings noch sehr jung. [10]
Taylor schreibt in seinem Hauptwerk The principles of scientific management: “In the past the man has been first; in the future the system must be first.” Heute ist der Mensch allerdings im Unternehmen immer weniger ausführendes Organ möglichst standardisierter repetitiver Aufgaben, die nicht automatisiert werden können, sondern kreativer Gestalter in schwach strukturierten komplexen Umgebungen. Unternehmen können somit auch keine technokratischen Konstrukte mehr sein, in denen der Mensch nur ein Rädchen im Getriebe ist, sondern emergente Systeme, die aus der kognitiven Zusammenarbeit der beteiligten Menschen entstehen und viel mehr leisten können als die reine Summe der einzelnen Gehirne. [11]
Die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens hängt somit von der Leistungsfähigkeit des Denkens der beteiligten Menschen ab, insbesondere in Entscheidungsprozessen und von ihrer Kooperationsfähigkeit. Wie das aussehen kann, beschäftigt uns bei TIM Consulting schon länger und wird auch 2024 ein wichtiges Thema in unserer Forschung und unseren Projekten sein. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.
Quellen:
[1] Von Anton, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16442842
[2] Urban, Tim (2023): What is our Problem? Wait But Why, Inc., Claymont
[3] https://archive.nytimes.com/www.nytimes.com/imagepages/2008/02/10/opinion/10op.graphic.ready.html
[4] Brynjolfsson, Eric; McAfee Andrew (2016): The Second Machine Age: Work, Progress, and Prosperity in a Time of Brilliant Technologies. W. W. Norton, New York
[5] 18 Trillionen Reiskörner wiegen je nach Sorte über 400 Mrd. t, zum Vergleich, die Weltjahresproduktion lag 2021 unter 800 Mio. t (https://www.fao.org/faostat/en/#data/QCL/visualize)
[6] Die Idee wurde erstmalig von Ray Kurzweil vorgestellt.
[7] Schon früh wurde aus verschiedenen Richtungen Kritik geäußert, der Taylorismus diente z.B. als Vorlage für die Dystopien in Brave New World von Aldous Huxley, oder Metropolis von Thea von Harbou. Der Leitspruch in Metropolis “Mittler zwischen Hirn und Händen muss das Herz sein!” ist die klare Antithese zu Einwegkommunikation und strenger Aufteilung geistiger und körperlicher Arbeit bei Taylor.
[8] Siehe auch https://tim-consulting.de/mit-diversifikation-zu-mehr-resilienz/
[9] O’Reilly, Charles; Tushman, Michael (2004): The Ambidextrous Organization. Harvard Business Review, April 2004
[10] Papachroni, Angeliki et al. (2020): Ambidexterity as Practice: Individual Ambidexterity Through Paradoxical Practices. The Journal of Applied Behavioral Science Volume 56, Issue 2
[11] Urban, Tim (2023): What is our Problem? Wait But Why, Inc., Claymont, Pink, Daniel (2009): Drive: The Surprising Truth About What Motivates Us. Riverhead, New York City
Bild: Freepik
M.Sc. Philipp Wichert
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