
Fehlerkultur vs. Risikomanagement – was Trading & Poker mit Innovieren zu tun haben
Innovieren ist ein frustrierendes Geschäft. Eine Vielzahl von Studien bescheinigt Ideen nur eine Überlebenswahrscheinlichkeit im Promille-Bereich. Selbst am Markt eingeführte Produkte scheitern noch mit 40-prozentiger Wahrscheinlichkeit. [1] Neu gegründete Unternehmen haben es noch schwerer, 11 von 12 Start-Ups schaffen es nicht, sich am Markt zu etablieren.[2]
Mit der industriellen Massenproduktion kamen Mitte des 20. Jahrhunderts Methoden und Strategien auf, die auf Qualitätsmaximierung, Beseitigung von Verschwendung und Fehlervermeidung abzielen, wie Kaizen, Toyota Produktionssystem oder Total Quality Management.
Auf die Spitze getriebene Fehlervermeidung hat im schlimmsten Fall zur Konsequenz, dass Fehler lieber totgeschwiegen werden, risikoreichere Innovationsvorhaben gar nicht angegangen oder zu früh abgebrochen und damit Lernen und mögliche Erfolge behindert werden.
Seit den 90ern hat sich daher ein offenerer Umgang mit Fehlern entwickelt, mit dem Ziel, an Fehlern zu wachsen, Folgefehler zu vermeiden und blinde Flecken aufzudecken. Im Start-Up-Ökosystem des Silicon Valley hat sich das Mantra „fail fast, fail often“ etabliert. Es soll viel ausprobiert werden, aber möglichst schnell ein Scheitern eingestanden werden, um die sunk costs niedrig zu halten.
Aber sind Fehler und Scheitern überhaupt die richtigen Begriffe für einen Innovationsprozess? Führt „fail fast, fail often“ in jedem Fall zu weniger Verschwendung?
In Innovationsprojekten wird zwangsläufig mit Unsicherheit, Hypothesen und Ungewissheiten gearbeitet. Ständig besteht die Gefahr, in eine Sackgasse zu gelangen und nochmal von weiter vorne anfangen zu müssen. Scheitern scheint der notwendige Preis für Innovation zu sein.
Das erinnert ein wenig an wahrscheinlichkeitsbasierte Umgebungen wie Poker oder einige Handelsstrategien an der Börse. Dabei lässt sich in jeder Situation eine ungefähre (Optionshandel an der Börse) oder exakte (Poker) Eintrittswahrscheinlichkeit errechnen, ob man gewinnt oder verliert. Sehr gute Pokerspieler zeichnen sich u.a. dadurch aus, dass sie mit hoher Sicherheit bei engen Spielen einschätzen können, ob das Blatt 60%-40% gegen sie oder für sie steht. Der Unterschied scheint minimal und gibt bei einem einzigen Spiel keine zuverlässige Indikation, ob man gewinnt oder verliert. Bei sehr vielen Spielen nähert sich über das Gesetz der großen Zahlen die Summe der Ergebnisse aber dem 60%-40% an.
Wichtig ist dabei die Höhe des Einsatzes und der mögliche Gewinn, also das Chance-Risiko-Verhältnis. Der wahrscheinliche Gewinn muss den wahrscheinlichen Verlust übersteigen. Bei einem Vorteil von 60%-40% könnten z.B. die Einsätze genauso hoch wie der erwartete Gewinn sein und das Modell wäre langfristig profitabel. Ebenso wichtig, die einzelnen Einsätze dürfen nicht so hoch sein, dass man Gefahr läuft auf dem Weg bankrott zu gehen. Hohe Einsätze versprechen hohe Gewinne in kurzer Zeit, können aber auch schnell zu katastrophalen Konsequenzen führen. Gier ist an der Börse und am Pokertisch eine verbreitete und gefährliche Emotion.
Mit einem ebenfalls emotional sehr fordernden Handelsmodell ist der Finanzmathematiker und Autor Nassim Taleb erfolgreich geworden. Er setzte konstant sehr niedrige Einsätze auf sehr selten vorkommende und sehr schwer vorhersagbare Ereignisse (von ihm sogenannte „schwarze Schwäne“[3]), die aber ein enormes Gewinnpotential versprachen. Es kann passieren, dass er über Jahre viele kleine Verluste macht und dann einen riesigen Gewinn einfährt. Auch hierbei muss natürlich das Chance-Risiko-Verhältnis wieder stimmen, deshalb ist z.B. Lottospielen keine Alternative dazu.
Die nüchterne statistische Betrachtung der Handelsmodelle an der Börse und beim Poker kennt keine Fehlerkultur und keine Verschwendung. Wenn die Wahrscheinlichkeiten und der Einsatz stimmen, wird sich das Modell früher oder später auszahlen, alle Abweichungen sind temporär und kehren zum statistischen Mittelwert zurück. Morgan Housel schreibt in seinem Buch „The Psychology of Money“, dass es keine Abkürzung zu Reichtum gibt und Gewinne an der Börse niemals gratis sind. Die unweigerlichen Verluste sollten daher mental als Eintrittsgeld anstatt als Bußgeld verbucht werden, damit die Versuchung nicht zu groß wird, eine vermeintliche Abkürzung zu nehmen, wie z.B. sehr hohe Einsätze an der Börse oder beim Lottospielen.
Innovierende können sich vielleicht etwas von den diesem Mindset abschauen. Unweigerliche Sackgassen nicht als Bug sondern als Feature im Prozess begreifen, nicht als Fehler, den man hätte vermeiden können, sondern als Teilnahmegebühr am Spiel. Analog zu den vorgestellten Handelsmodellen könnten sich für inkrementelle Innovationsaktivitäten mit hoher Erfolgswahrscheinlichkeit dedizierte, sauber geplante Projekte anbieten und für radikale Innovationen eher viele schlanke Aktivitäten, um möglichst viel auszuprobieren, Erkenntnisse zu sammeln und ohne zu große Verlustrisiken durchzuhalten, bis der Erfolg sich einstellt. Innovation ist nicht planbar, aber ein bewussterer Umgang mit Risiken könnte zu mehr Ausprobieren und mehr Resilienz gegenüber temporären Rückschlägen führen. Denn das System gibt die notwendige Selbstsicherheit, dass sich irgendwann die überproportionalen Erfolge einstellen.
Quellen:
[1]
[2] https://techli.com/startup-genome-project/32391/
[3] Siehe dazu das gleichnamige Buch. Schwarze Schwäne kann es in einem vollständig bestimmten System wie Poker nicht geben, aber an der Börse.
Bild: Marin Tulard, Unsplash

M.Sc. Philipp Wichert
Senior Consultant bei TIM Consulting
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