Wie Corona dem Büro den Taylor austreiben könnte
„[…] there is also a little bit of mystery, because we cannot really design space.
We design what surrounds the space, what influences the space with materials.“
(Peter Zumthor)
In den (sozialen) Medien läuft seit dem zwangsweisen starken Anstieg von Homeoffice eine rege Debatte über die Büroarbeit der Zukunft. In Deutschland hat diese mit dem (vorläufigen) Ende der Homeoffice-Pflicht zum 1.7.2021 und gleichzeitig offenen Diskussionen über ein gesetzliches Recht auf Homeoffice noch weiter an Fahrt aufgenommen.
Viele Unternehmen haben bereits angekündigt, den Arbeitsort auch weiterhin komplett frei wählen zu lassen. Promiente Beispiele sind SAP, Twitter, Dropbox, Otto, Bosch, Daimler, Porsche und Boehringer-Ingelheim. Es zeigt sich, dass dieser Trend sich nicht nur auf Dienstleistungs- und Softwareunternehmen beschränkt, sondern sogar viele produzierende Unternehmen dabei sind, die naturgemäß immer eine Standortpräsenz brauchen. Allerdings gibt es auch Gegenbeispiele, die Ihre Mitarbeiter gerne wieder vollumfänglich im Büro sehen möchten. Dazu zählen Trumpf, Trigema, Goldman Sachs oder Netflix.
Auch aus unserem Netzwerk bekommen wir ebenfalls ein gemischtes Bild. Gefühlt neigen die traditionsbewussten Mittelständler eher zu einer Ablehnung von umfangreichem Homeoffice. Dies verwundert, ist die damit verbundene höhere Rekrutierungsreichweite doch insbesondere für kleinere Unternehmen an metropolfernen Standorten interessant. Dazu kommt allgemein, dass die Mitarbeiter weniger Zeit mit Pendeln verbringen müssen, die Flexibilität steigt und ggf. teure Büroflächen abgebaut werden können.
Aber ist die freie Wahl des Arbeitsortes tatsächlich uneingeschränkt zu befürworten? Bei der Arbeit „am Küchentisch“ verlieren die Unternehmen die Kontrolle über die Arbeitsplatzergonomie, ein wichtiger Faktor bei der Mitarbeitergesundheit. Häufig wird der fehlende soziale Austausch bemängelt, als Gegenmaßnahmen werden z.B. virtuelle Kaffeepausen eingerichtet. Die sozialen Aspekte scheinen insgesamt am stärksten betroffen zu sein: Durchdringung mit der Unternehmenskultur, Eingliederung von Neueinstellungen und eine enge Beziehung von Produktion und Büro wurden während der Homeoffice-Pflicht stark eingeschränkt.
In der Harvard Business Review gab es Ende Juli einen Artikel, in dem aufgeschlüsselt wurde, welche Meetings persönlich sein sollten und für welche eine Videokonferenz reicht[1]. Wichtige Entscheidungskriterien sind dabei die Komplexität des Themas und ob es sich dabei eher um eine aufgaben- oder eine beziehungsorientierte Fragestellung handelt. Konfliktmediation, Leadership-Training und Team Building sollten demnach unbedingt persönlich, Briefings und fachliche Schulungen eher online stattfinden.
Leider wurden bei der Analyse Kreativitäts- und Innovationsthemen nicht betrachtet. Nach unserer umfangreichen Studie zu kreativitätsfördernden Arbeitsumgebungen und steigendem Interesse an Beratungsprojekten dazu haben wir selbst auch ein großes Interesse am Thema, natürlich in erster Linie aus der Perspektive des Innovationsmanagements.
Auch wenn es kein Zurück zu 100% im Büro gibt, bleibt die Relevanz von kreativitätsfördernden Arbeitsumgebungen gegeben, nimmt sogar zu. Denn gerade kreatives Kooperieren scheint trotz aller digitalen Hilfsmittel immer noch gemeinsam in einem Raum am effektivsten zu sein.
Wenn das Büro nicht mehr der standardmäßige Arbeitsplatz ist, sondern dediziert Stätte der Begegnung, Austausch, kreativer Kooperation, Kultur- und Teambildung, braucht es eine neue Ebene der Arbeitsorganisation und des Projektmanagements, die neben den Aufgaben und Werkzeugen, auch den idealen Erfüllungsort beschreibt. Bei hoher individueller Flexibilität ist dafür zusätzlicher Koordinationsaufwand nötig, um festzulegen wann man sich persönlich trifft und wozu. Um dies zu rechtfertigen, muss ein Mehrwert gestiftet werden. Hier gibt es sicherlich noch weiteren Forschungsbedarf.
Hinzu kommt die Gestaltung des Büros. In heutigen Büros gibt es immer noch eine Vielzahl an Artefakten fast 100 Jahre alter tayloristischer Bürogestaltung. Schreibtischreihen in Großraumbüros und Manager in Einzelbüros sollten, analog zur Fabrik, die Produktivität maximieren. Eine Arbeitsorganisation deren Grundprinzip die Zerlegung von Aufgaben in möglichst kleine monoton-repetitive Schritte ist, scheint in einer Zeit, in der Automatisierung und KI diese Aufgaben übernehmen und der Mensch agil, schwach strukturiert und kooperativ arbeitet, nicht mehr zeitgemäße Inspiration für die Bürogestaltung zu sein.
Die Firma Dropbox hat jetzt ihre Büros wieder eröffnet, nennt diese aber nicht mehr „offices“, sondern „studios“[2]. Statt Schreibtischen gibt es jetzt nur noch Meetingräume und Multifunktionsräume mit verschiebbaren Wänden, Möbeln und Bildschirmen, um möglichst vielen Kooperationsformaten gerecht zu werden.
Das Zukunftsinstitut identifiziert New Work als einen Megatrend. Dabei wird das Büro zum Hub für Co-Creation, zwischenmenschliche Beziehungen und gelebte Unternehmenskultur[3]. Corona könnte den Anstoß geben für eine radikale Neuinterpretation des Büros.
Aufbauend auf unseren laufenden Forschungen zu kreativitätsfördernden Arbeitsumgebungen haben wir weitere Arbeiten und einen ausführlichen Dialog mit unseren Partnern und Kunden angestoßen, um das Büro der Zukunft besser zu verstehen und Innovationspotentiale zu identifizieren. Wir würden uns sehr freuen, wenn auch Sie daran teilnehmen und uns Ihre Meinung und Erfahrungen mitteilen.
Quelle:
[1] https://hbr.org/2021/07/when-do-we-actually-need-to-meet-in-person
[2] https://www.protocol.com/amp/dropbox-studios-2653706016
[3] https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-new-work/
Bild: Laura Davidson, Unsplash
M.Sc. Philipp Wichert
Senior Consultant bei der TIM Consulting
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