
Vibe Coding – Programmieren mit Gefühl
Ein neuer Trendbegriff breitet sich im KI-Ökosystem aus: „Vibe Coding“.
Dieser beschreibt einen neuen Ansatz zur Softwareentwicklung. Allein aus der Beschreibung gewünschter Funktionalitäten mit natürlicher Sprache generieren Large Language Models funktionsfähigen Code.
Dadurch ist es jetzt jedem möglich, Software zu erstellen, ohne jegliche Programmierkenntnisse. Als Galionsfigur hat die Internetcommunity den Musikproduzenten Rick Rubin auserkoren, der die Rolle dankend annimmt.
Rubin erkennt im Vibe Coding Trend viel von seiner eigenen Historie im Punkrock wieder. Obwohl er einer der bekanntesten Musikproduzenten überhaupt ist, gab er in einem Interview im Jahr 2023 zu, dass er kein Instrument richtig spielen könne und praktisch nichts darüber wüsste, wie man Musik macht [1]. Seine musikalischen Anfänge liegen im Punkrock, er sah darin die Möglichkeit, ohne formelle musikalische Ausbildung Musik zu machen, nur mit ein paar Akkorden auf der Gitarre.
Die Parallelen zu Large Language Models, die den Zugang zu den leistungsfähigsten KI-Systemen komplett demokratisiert haben, sind offensichtlich. Allerdings scheint hier die kreative Revolution bisher noch nicht im Mainstream angelangt zu sein. In einem früheren Artikel [2] habe ich meine Idee vom Usability Dilemma vorgestellt. Rubin beschreibt ein ähnliches Phänomen: Menschen stellen der KI Fragen und geben sich mit der Antwort zufrieden. Auch um selbst nicht mehr nachdenken und die großen Fragen stellen und deren wirklichen Antworten suchen zu müssen.
Die KI versucht systembedingt, es dem Nutzer immer recht zu machen. Gepaart mit den uns allen innewohnenden kognitiven Verzerrungen, die uns Gefahr laufen lassen, die Bestätigung des Bekannten der Realität oder der Verbesserung vorzuziehen, entsteht eine kreativitätshemmende Mischung. Deshalb wirbt Rubin für eine neue Bewegung zur Erstellung digitaler Lösungen getrieben durch Vibe Coding inspiriert durch die Punk-Bewegung in der Musik.
Auf die Frage, wofür er denn dann bezahlt wird, wenn er keine Ahnung von Musik hat, sagt Rubin, es sei seine Entschlossenheit dafür, was er mag und was er nicht mag, sein Vertrauen in seinen eigenen Geschmack und die Fähigkeit auszudrücken, was er fühlt. Auch KI ist lediglich ein Werkzeug, die kreative Haltung kommt vom Menschen. Intuition, Einfachheit und Authentizität sollen auch die treibenden Kräfte hinter Vibe Coding sein. Es ist ein kreativer Modus, in dem KI zur Projektionsfläche für menschliche Gestaltungskraft wird. Jede Person, die etwas zu sagen hat und der ein Konzept für die Generierung von Mehrwerten vorschwebt, kann sich verwirklichen, ohne Eintrittsbarrieren wie die Kenntnis von Programmiersprachen oder Risiken wie die Notwendigkeit hoher Anfangsinvestitionen.
Die Freiheit von Frameworks, Prozessen, Plänen und Strukturen, also sämtlichen bürokratischen Zwängen, unterstreicht Rubin mit seinem Projekt „The Way of Code. The Timeless Art of Vibe Coding“ [3]. Dabei hat er seine eigene Interpretation des ca. 3000 Jahre alten Daodejing erstellt. Als maßgeblicher Ausgangspunkt des Daoismus werden darin (mehr oder weniger kryptisch) Hinweise für ein gutes Leben im Einklang mit sich selbst und seinem Umfeld gegeben.
Rubin wollte kein Handbuch für besseres Coding, Erstellung von Geschäftsmodellen oder Marktdurchdringung schreiben, sondern ein Mindset fördern, eine Grundeinstellung zu angstfreier Eigenständigkeit, Kreativität und Selbstverwirklichung. Das spiegelt sich auch darin wider, dass er kein Buch veröffentlicht, sondern eine Website erstellt hat, mit kunstvollen KI-generierten Visualisierungen der einzelnen Kapitel. Die Leser werden zudem eingeladen, die Inspiration beim Schopf zu greifen und die Visualisierungen über einen Chatbot individuell anzupassen.
Im Daodejing lese ich regelmäßig, daher finde ich diese Verbindung auch persönlich besonders interessant und inspirierend. Zum Abschluss deshalb noch mein Lieblingskapitel in der Version von Rick Rubin [4]:
„Ancient engineers were profound, subtle and at one with the mysterious forces. The depth of their being is not knowable.
Therefore, all we can do is describe their appearance: Watchful, as though crossing a frozen stream. Alert, as a soldier in enemy territory. Respectful, as a thoughtful guest. Mutable, as candle wax in blazing sun. Simple, as a blank screen. Hollow, as a yawning cave. Opaque, as a muddy pond.
Who can wait quietly while the mud settles. Who can remain still until the moment of action. The Vibe Coder doesn’t seek fulfillment. Not seeking, not expecting, he is present for all that appears.“
Bild: KI-generiertes Bild, erstellt mit Adobe Firefly
[1] https://hiphopdx.com/news/rick-rubin-knows-nothing-about-music
[2] https://tim-consulting.de/wer-ist-eigentlich-dieser-kurt-ingo-und-wieso-ist-der-ueberall-in-medien/
[3] https://www.thewayofcode.com/
[4] https://www.thewayofcode.com/#15

M.Sc. Philipp Wichert
Senior Project Manager bei TIM Consulting
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