Technische Dokumentation und Industrie 4.0
Was ist das generelle Handlungsfeld der „Technischen Dokumentation“ und wie wird dieses bisher in Unternehmen abgebildet?
Neben der haftungsrechtlichen Absicherung (vgl. z.B. Maschinenrichtlinie, Produkthaftung) gehört zu den Aufgaben der Technischen Dokumentation die Beschreibung erklärungsbedürftiger Produkte in den Zielsprachen der Exportländer. Ziel sind Anleitungen zum bestimmungsgemäßen Gebrauch der Produkte (z.B. Installations-, Betriebs- und Wartungsanleitungen, Ersatzteilkataloge, Schulungsunterlagen). Die Technische Dokumentation ist oft der Entwicklung/Konstruktion zugeordnet und arbeitet mit dieser sowie dem Produktmanagement, dem Vertrieb und Marketing, der Schulungsabteilung, dem Kundenservice und dem Ersatzteilwesen sowie mit externen Partnern (z. B. Übersetzungsdienstleistern) sehr eng zusammen.
Die Technischen Redakteure versetzen sich in den Anwendungskontext der Kunden (z.B. Bedien-, Wartungs- oder Servicepersonal) und setzen zielgruppenorientiert die zugelieferten technischen Informationen (z.B. aus der Konstruktion) in handlungsleitende Literatur strukturiert um. Dies kann beispielsweise eine alle Varianten umfassende Anleitung sein (in der sich der Kunde die relevanten Informationen selbst heraussuchen muss), die Erstellung einer kunden-/produktindividuellen Betriebsanleitung oder eine problembasierte Führung durch die teils sehr umfangreichen Dokumente.
Welche neuen Anforderungen ergeben sich aus Industrie 4.0 für die technische Dokumentation?
Auf der einen Seite wird die stärkere Produktionsausrichtung an Kundenspezifika auch höhere Ansprüche an die Individualisierung der Produktliteratur stellen. Auf der anderen Seite verändern sich die Nutzer und ihre Ansprüche an die Contentdarbietung (Stichwort: mobile Endgeräte, Augmented Reality).
Stand bei der Technischen Dokumentation bislang die Nutzerorientierung im Mittelpunkt, wird es künftig die Nutzerzentrierung sein. Nicht mehr die Produktliteratur selbst ist damit wertvoll, sondern die Wirkung hieraus. Bei der Nutzerorientierung versetzt sich der Redakteur in denkbare Handlungskontexte und bereitet hierfür Produktinformationen didaktisch auf (für spezifische Anwendungsfälle, Zielgruppen und Darstellungsmedien). Nutzerzentrierung meint dagegen, dass der Nutzer selbst entscheidet, welche Informationshäppchen er in welcher Darbietung benötigt – Content-Delivery setzt dabei zunächst einen konkreten Content-Request voraus. Nutzer können dabei nun auch Maschinen selbst sein.
Ein realistisches Anwendungsszenario wäre beispielsweise: Über Sensoren stellt eine Maschinenlogik fest, dass ein bestimmtes Aggregat auszufallen droht. Es wird eine prädiktive Wartung eingeleitet. Die Wartungsdokumentation liegt dabei nicht als veraltete Version im Maschinenschrank, sondern wird über eine Cloud-Lösung immer aktuell vorgehalten. Anhand der Fehlercodes sucht die Maschine die passende Wartungsanleitung sowie – ebenfalls cloud-basiert – in einer Technikerdatenbank nach einem geeigneten Experten, bucht diesen in einer Workforce-Management-Lösung, bestellt über die Materialwirtschaft Ersatzteile und Werkzeuge. Kommt der Techniker zum vereinbarten Termin an die Maschine, identifiziert er sich und seine mitgebrachte Darstellungstechnik über RFID. Die zu wartende Maschine überspielt dann den Wartungs-Content (und zwar exakt nur die benötigten Inhalte) auf das Tablet, die SmartWatch, das ePaper oder die Datenbrille und ggf. die CAD-Daten des defekten Teils an einen 3D-Drucker.
Ein solches Szenario setzt eine hochgradige Metadatenstruktur und ontologische Regeln sowie eine Integration der Produkt mit den Prozessdaten voraus. Es ist zu vermuten, dass sich die Arbeit der Technischen Redakteure extrem verändern wird. Wird heute beispielsweise eher zu 80 % geschrieben und zu 20 % geprüft und Metadaten vergeben, wird sich dieses Verhältnis umkehren. Für den eigentlichen Content werden dann andere verantwortlich sein (z.B. Konstrukteure , Servicetechniker oder selbstlernende Schreibroboter).
Wie sind Unternehmen aus Ihrer Erfahrung darauf vorbereitet?
Nur wenige Unternehmen, meist Konzerne und kaum KMU, beschäftigen sich aktuell mit Industrie 4.0 und noch weniger mit Technischer Dokumentation 4.0. Die meisten Industrieunternehmen sind auch von hochstrukturierten Produktdaten noch weit entfernt, um ein kontextabhängiges Content-Delivery gewährleisten zu können. Und selten gibt es durchgängig wohlgeformte Fehlercodes, die einen Request auslösen könnten. Die Technische Dokumentation führt zudem oft ein Schattendasein, wird meist als Kostenfaktor und nicht als Wertschöpfungscenter gesehen. In vielen Betrieben wird zwar schon von Technischer Kommunikation gesprochen, also einer Informationsversorgung für alle mit der Herstellung, Veränderung und Nutzung eines Produkts befassten Akteure, obwohl de-facto doch nur klassische Technische Dokumentation betrieben wird.
Im Kontext von Industrie 4.0 wird sich eine professionelle Technische Kommunikation zum Wissensmanagement entwickeln müssen. Heute stehen das situationale Wissen (richtige Einordnung und Interpretation des Anwendungskontextes, z.B. Betrieb, Wartung, Störung) und das konzeptionelle Wissen (Faktenwissen über das, was in einer spezifischen Situation zu tun ist) im Mittelpunkt. Künftig wird es vor allem das prozeduale Wissen (Erweiterung des Faktenwissens durch Erfahrung – Lernkurven) und das strategische Wissen (metakognitives Wissen über eine optimale Strukturierung des Problemlösungsverhaltens; Problemlösungsstrategien für Probleme, für die es noch keine allgemeinen Lösungsstrategien gibt) sein. Hierauf ist die Technische Dokumentation 3.0 noch nicht vorbereitet.
Was ist in der Forschung und in Unternehmen diesbezüglich zu tun?
Zum einen bedarf es technikbasierter Dienstleistungen (z.B. Big Data und Cloud-Lösungen zur Integration der Wertschöpfungsprozesse), wie sie beispielsweise vom BMFT im groß angelegten Forschungsprogramm „Innovationen für die Produktion, Dienstleistung und Arbeit von morgen“ gefördert werden. Zum anderen bedarf es auf Technische Kommunikation ausgerichtete Lösungen, wie sie beispielsweise gerade beim Fachverband für Technische Kommunikation (tekom Deutschland e.V.) mit einem Forschungsprojekt für einen Request- & Delivery-Bereitstellungsstandard für Intelligente Information 4.0 angestrebt wird.
Und in den Unternehmen der produzierenden Industrie bedarf es neben der strukturierten Datenaufbereitung vor allem einer wertschöpfungskettenübergreifenden Informationsstrategie, welche Auswirkungen Industrie 4.0 auf die Verkettung von Produktlinien und Produktinformationen haben wird. Hierzu gehört beispielsweise die nicht leicht zu beantwortende Frage: Wie werden Wartungsinformationen von zugelieferten Bauteilen als kontextabhängige Contenthäppchen in den relevanten Sprachen mit der eigenen Literatur verknüpft und auf der Anwenderseite in eine problemlösungsorientierte Darstellung überführt?