Disruptive Innovation gleich Disruptiver Wandel?
Christoph Schnabel, Senior Berater perpuls GmbH
Der Begriff „Disruption“ ist zurzeit allgegenwärtig – jede Firma hat einen eigenen Standpunkt zum Thema Disruption. Gegenwärtig kann man sich der „Disruption“ auch nicht wirklich entziehen. Es findet kaum eine Konferenz statt, die nicht mindestens einen Workshop zu disruptiven Geschäftsmodellen, disruptiven Technologien oder disruptiver Digitalisierung hat.
Unumstritten hat dieser Begriff eine steile Karriere gemacht, doch lohnt sich im Hinblick auf die Wertigkeit dieser Beschreibung ein zweiter Blick. Die Webseite gruenderszene.de definiert „Disruption“ beispielsweise als „ein Prozess, bei dem ein bestehendes Geschäftsmodell oder ein gesamter Markt durch eine stark wachsende Innovation abgelöst, beziehungsweise „zerschlagen“ wird.“ So knüpft der Begriff an die „Schöpferische Zerstörung“ von Joseph Schumpeter (1883-1950) an. Clayton Christensen prägte mit seinem Buch „The Innovator’s Dilemma“ den Term der „disruptive Technologies“ und wies dabei auf die Dynamik von Innovationen hin. Eine empirische Grundlage für disruptiven Wandel steht noch aus. Sucht man nun nach einer empirischen Grundlage für die Ablösung und Zerschlagung gesamter Märkte, so fällt das Ergebnis ernüchternd aus. An zwei Beispielen lässt sich dies verdeutlichen.
Bargeld vs. digitales Bezahlen
2016 sprach der Vorstand der Deutschen Bank, John Cryan, beim Weltwirtschaftsforum in Davos davon, dass das Bargeld in den nächsten 10 Jahren „verschwinden“ werde. Durchaus gab es in den letzten Jahren zahlreiche technische Innovationen, die den Zahlungsverkehr deutlich veränderten. Die Distributed-Ledger-Technologie ermöglichten neue Formen der effizienten Transaktion und schafften die Grundlage für die neuen Kryptowährungen wie zum Beispiel Bitcoin und Ripple. Jedoch steht der Aussage von Cryan von einem disruptiven Wandel im Zahlungsverkehr eine andere Entwicklung entgegen. Die Anzahl der Bartransaktionen ist im Vergleich 2008 zu 2017 um 8,2 % gesunken, jedoch wurden 2017 weiterhin mehr als 74 % aller Bezahlvorgänge am Point-of Sale in bar getätigt. An zweiter Stelle sind es Debitkarten die von Kunden genutzt werden (18,4 % in 2017, 11,9 % in 2008). Mobile Bezahlverfahren wurden 2017 zum ersten Mal statistisch erfassbar und betrugen 0,1 % aller Transaktionen am Point-of-Sale (vgl. Deutsche Bundesbank, Zahlungsverhalten in Deutschland 2017). Für das Szenario von Cryan einer bargeldlosen Gesellschaft verbleiben also noch acht Jahre.Stream vs. CDs
Häufig werden der iPod und Streaming Anbieter wie Spotify, Soundcloud oder GooglePlay Music, mit deren Plattformtechnologien, als Disruptoren in der Musikindustrie beschrieben und die „radikale Umwälzung“ der bestehenden Wertschöpfungsketten ausgemacht. Die fehlende Bereitschaft sich selbst zu „disrupten“ (businessinsider.de) wird als maßgebliche Faktor für negative Zukunftsszenarien eines Unternehmens und Branche proklamiert. Durchaus sind tragbare CD-Player fast vollständig aus den Geschäften verschwunden – aber CDs und CD Spieler nicht. So werden immer noch CDs und CD Spieler verkauft. Der Umsatzanteil von CDs an den Musikverkäufen im Jahr 2016 betrug 53 % (BVMI 2016). Diese beiden Beispiele verdeutlichen, dass auch radikale Innovationen nicht gleich zu setzen sind mit einem disruptiven Wandel.Innovationen werden kurzfristig überschätzt und langfristig unterschätzt
Die gegenwärtige Veränderung der Digitalisierung wir oftmals mit einer vierten Industriellen Revolution beschrieben. Ein solcher Analogismus mag zwar verfrüht sein, im Hinblick auf die Bewertung des neuen disruptiven Innovationsparadigmas kann ein historischer Vergleich aber durchaus erkenntnisreich sein. So können zwar alle drei Revolutionen mit einem Startpunkt bemessen werden (1784: Erster mechanischer Webstuhl, 1870: Erstes Fließband in den Schlachthöfen von Cincinnati, 1969 Erste Speicherprogrammierbare Steuerung (SPS), Modicon 084) ein genauer Endpunkt jedoch nicht. Teilweise dauerte die Verbreitung und massenhafte Anwendung von neuen Technologien mehrere Jahrzehnte, obwohl deren hoher Nutzen bekannt war. Allein das Telefon musste vier Mal neu erfunden werden, bis es sich durchsetzen konnte. Gleichwohl hatten diese Innovationen weitreichende Auswirkungen auf alle Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft. So sollte ein Zwischenfazit sein, dass Innovationen kurzfristig überschätzt und langfristig unterschätzt werden. Es gibt es keine empirischen Belege, dass gegenwärtig eine Disruption stattfindet, die in sehr kurzer Zeit bestehende Wertschöpfungsketten obsolet machen wird. Getrieben durch unterschiedliche Formen der Digitalisierung findet trotzdem ein Strukturwandel statt. Dies ist ein kontinuierlicher Prozess, welcher schon vor mehr als 30 Jahren eingesetzt hat und sich auch sicherlich weiter beschleunigen wird.Christoph Schnabel
Senior Berater perpuls GmbH
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