Dekarbonisierung: Chancen und Risiken des Koalitionsvertrags aus Sicht von Unternehmen
Der Koalitionsvertrag lässt aus Sicht der Unternehmen viele Fragen offen. Erfahren Sie im Folgenden, was der Koalitionsvertrag für Unternehmen bedeutet, welche Chancen und Risiken sich hieraus ergeben und wie ein KMU-Netzwerk Dekarbonisierung Sie auf dem Weg durch die dynamischen und komplexen Zeiten unterstützen kann.
Die Metamorphose dreier sehr unterschiedlicher Wahlprogramme zu einem Koalitionsvertrag (1) mit deutlich mehr Licht als Schatten verdient Anerkennung.
Beginnen wir mit dem Licht:
Klimaschutz soll nicht mehr mit dem Verzichtsprinzip über das Land gebracht werden. „Unseren Wohlstand in der Globalisierung zu sichern ist nur möglich, wenn wir wirtschaftlich und technologisch weiter in der Spitzenliga spielen und die Innovationskräfte unserer Wirtschaft entfalten. Grundlage dafür sind faire Wettbewerbsbedingungen; dazu gehört auch eine faire Besteuerung – national und international“.
Kein Politiker und Berater ist in der Lage in einem komplexen, sich laufend verändernden System mit gegenseitigen Wechselwirkungen heute zu erkennen, welches der effizienteste Technologiemix in zehn bis zwanzig Jahren ist. Im Koalitionsvertrag wird die daher dringend notwendige Technologieoffenheit erfreulicherweise mehrfach erwähnt. „Für einen schnellen Hochlauf und bis zu einer günstigen Versorgung mit grünem Wasserstoff setzen wir auf eine technologieoffene Ausgestaltung der Wasserstoffregulatorik.“ „Wir werden die novellierte Erneuerbare-Energien-Richtlinie nach Verabschiedung möglichst technologieoffen und ambitioniert umsetzen; dabei schließen wir Atomkraft weiterhin aus.“
Der Zertifikatehandel ist nachweislich ein effizientes Werkzeug bei der bevorstehenden Transformation. Der Koalitionsvertrag verspricht an zahlreichen Stellen dieses marktwirtschaftliche Element einzusetzen. Gute Ordnungspolitik braucht kein Ordnungsrecht. „Daher unterstützen wir die Pläne der Europäischen Kommission zur Stärkung des bestehenden Emissionshandels und setzen uns für eine ambitionierte Reform ein. …. Dabei ist vorzusehen, dass in den jeweiligen EU-Mitgliedstaaten ein sozialer Ausgleich stattfindet. In den 2030er Jahren soll es ein einheitliches EU-Emissionshandelssystem über alle Sektoren geben, das Belastungen nicht einseitig zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher verschiebt.“ Oder an anderer Stelle: „Wir setzen auf einen steigenden CO2-Preis als wichtiges Instrument. Wir werden die staatlich induzierten Preisbestandteile im Energiesektor grundlegend reformieren und dabei auf systematische, konsistente, transparente und möglichst verzerrungsfreie Wettbewerbsbedingungen abzielen, Sektorenkopplung ermöglichen und so ein Level-Playing-Field für alle Energieträger und Sektoren schaffen. Dabei spielt der CO2-Preis eine zentrale Rolle.“
Die EEG-Umlage, wie geplant, bereits Anfang 2023 komplett in den Bundeshaushalt zu übernehmen, senkt die Stromkosten für Bürger und Unternehmen und macht perspektivisch regenerativen Strom gegenüber den fossilen Energieträgern Öl und Gas etwas wettbewerbsfähiger. Das ist richtig. An den Kosten ändert dies nichts. Notwendig und richtig sind auch die Betonung des Energieträgers Wasserstoff, die zentrale Rolle der Brückenenergie, Erdgas und die Wahrung der Versorgungssicherheit durch neue Gaskraftwerke, die H2-tauglich sind.
Auch das wichtige Grundprinzip global statt national findet wiederholt Erwähnung. „Die großen Herausforderungen unserer Zeit lassen sich nur in internationaler Kooperation lösen.“ Die Koalitionäre sprechen sich zu Recht für internationale Klimaclubs aus und für ein Vorantreiben der internationalen CO2-Bepreisung. Allein nationale Maßnahmen nützen dem Klima nicht.
Die in zentralen Punkten unterschiedlichen Auffassungen der Koalitionsparteien lassen vieles aber auch im Unkonkreten oder Widersprüchlichen.
Unterschiedlich ausdifferenzierte Aussagen zur Technologieoffenheit im Straßenverkehr, der Anzahl rein batterieelektrischer Fahrzeuge bis 2030 und dem möglichen Einsatz von CO2-neutralen Kraftstoffen lassen den Eindruck entstehen, dass sich manche bei der Technologieoffenheit noch schwertun. Hier muss Klarheit geschaffen werden. Wichtig ist, Elektrifizierung, Markthochlauf alternativer Kraftstoffe, Digitalisierung sowie Stärkung von Schiene, Bus und Binnenschiff unvoreingenommen zu nutzen. Die Koalition verliert gänzlich aus dem Blick, dass die Bestandsflotte von Pkw und Lkw durch eine erhöhte Beimischung CO2-armer und CO2-neutraler Kraftstoffe wesentlich zur Dekarbonisierung des Verkehrs beitragen muss.
Der Gefahr von Carbon Leakage (2) soll durch einen Carbon Boarder Adjustment Mechanism (3) begegnet werden. Trotz jahrelanger Bemühungen von Fachleuten gibt es hierfür noch immer keinen WTO-konformen Ansatz. So fehlt auch ein konkreter Hinweis im Koalitionsvertrag.
Die Koalitionsparteien betonen, dass Unternehmen neben der wirtschaftlichen auch die soziale und ökologische Nachhaltigkeit sowie die Durchsetzung von Menschenrechten im Blick haben sollten. Hier verkennt die Politik die Aufgabenteilung. Politik sorgt für Rahmenbedingungen und formuliert die politischen Fernziele, ist aber nicht der bessere Unternehmer. Unternehmen erarbeiten effiziente Lösungen, agieren innerhalb der Rahmenbedingungen, schaffen Arbeitsplätze, erwirtschaften Wohlstand sind aber aufgrund von Abhängigkeiten und sehr eingeschränkter Einflussnahmemöglichkeit nur sehr begrenzt dazu in der Lage globale, politische Fehlentwicklungen zu beheben, die die Politik nicht lösen kann oder will.
Die Absicht die digitale, automatische Kupplung im Rangierverkehr einzuführen in einem Koalitionsvertrag wiederzufinden, erinnert an das Mikromanagement der letzten Jahre. Setzt man der Bahn Ziele, sollte sie selbst wissen, welche Technologien zur Umsetzung erforderlich sind. Hingegen hätte man sich einen Hinweis auf den Rückkauf der durch die vorzeitige Stilllegung der Kohlekraftwerke nicht benötigten CO2-Zertifikate gewünscht. Bleiben diese im Markt, hat der 30 Mrd. Euro teure Kohleausstieg kein einziges Gramm CO2 eingespart. Im Gegenteil er subventioniert zusätzliche Emissionen bei den verbleibenden Teilnehmern des europäischen Emissionshandelssystem (4).
Die Koalitionäre wollen die Dekarbonisierungsgeschwindigkeit deutlich steigern. Hierzu werden Wirtschaftlichkeit, Bürgerrechte, Natur- und Artenschutz hintenangestellt, wie folgende Ausführungen erwarten lassen. „Die Erneuerbaren Energien liegen im öffentlichen Interesse und dienen der Versorgungssicherheit. Bei der Schutzgüterabwägung setzen wir uns dafür ein, dass es einen zeitlich bis zum Erreichen der Klimaneutralität befristeten Vorrang für Erneuerbare Energien gibt. Wir werden sicherstellen, dass auch in weniger windhöffigen Regionen der Windenergieausbau deutlich vorankommt, …“
Völlig unklar ist, was sich hinter dem „Klimaschutz-Sofortprogramm“ verbirgt. Bedenklich wären hier kurzfristige, ineffiziente symbolpolitische Maßnahmen, auch durch Ordnungsrecht.
Die zentrale Idee unserer heutigen Wirtschaftsordnung ist auf der Seite des Bundeswirtschaftsministeriums nachzulesen: Sie besteht darin „die Freiheit der Wirtschaft und einen funktionierenden Wettbewerb zu schützen und gleichzeitig Wohlstand und soziale Sicherheit in unserem Land zu fördern, für heutige wie für künftige Generationen“. In den vergangenen gut sieben Jahrzehnten war Wirtschaftswachstum nicht nur in Deutschland die Quelle von Einkommens- und Wohlstandszuwächsen. Ohne dieses Wachstum wäre der beachtliche Ausbau des Sozialstaats nicht finanzierbar gewesen.
Wer glaubt der Weg zur Klimaneutralität sei nun weitgehend vorgezeichnet, möge folgendes bedenken:
- Sogar bei optimaler Durchführung der Dekarbonisierung in den nächsten 20 Jahren liegen die Kosten allein in Deutschland bei 5 bis 6 Billionen Euro (5). Kaum ein Land in Europa ist in der Lage derartige Summen aufzubringen. Wenn Klimaneutralität den Wohlstand steigerte, wären die Welt schon klimaneutral, denn im Wesentlichen handelt es sich bei den Ausgaben um konsumtive Ausgaben, weil funktionsfähige Anlagen vor Ende ihrer Lebensdauer durch neue ersetzt werden, die i.d.R. nicht zur Produktivitätssteigerung beitragen, sondern im Gegenteil häufig zu anhaltenden höheren Produktionskosten führen. Nur Investitionen, die zu zusätzlicher Wertschöpfung führen, steigern den Wohlstand. Da das verdiente Geld nur einmal ausgegeben werden kann, führen konsumtiven Ausgaben zu relativen Wohlstandseinbußen. Anderseits kompensieren im günstigen Fall wegfallende Geschäftsfelder neuhinzukommenden in den nächsten Jahren.
- Einzig eine konsequente Wachstumspolitik (Produktivitätssteigerung, gesteuerter Fachkräftezuzug, wettbewerbsfähige Steuern, Entbürokratisierung, …) vermag dem entgegenzuwirken. Da wundert es schon, dass im 177 Seiten langen Koalitionsvertrag das Wort Wachstum nur 11 und das Wort Klima 198 zu lesen ist.
- Hinzu kommt, dass das Potenzialwachstum, also das bei Normalauslastung aller Produktionsfaktoren erzielbare Bruttoinlandsprodukt, in Deutschland stetig abnimmt und in der Mitte des kommenden Jahrzehnts nur noch rund ein Prozent betragen dürfte. Aufgrund der Alterung der Bevölkerung gehen von der Entwicklung des Arbeitskräfteangebots erst kaum noch positive und mittelfristig sogar negative Impulse auf das Potenzialwachstum aus.(6) Die Folge ist, dass die Wohlstandseinbußen in den alternden westlichen Gesellschaften nicht zu kompensieren Dies wird die Begeisterung für die Energiewende auch bei denen, die heute noch keine Steuern zahlen, erheblich mindern.
- Die Bereitschaft und Fähigkeit zur Finanzierung des Green Deal ist in den meisten EU-Staaten spürbar geringer als in Deutschland.
- Trotz einiger Fortschritte hat die Weltlklimakonferenz in Glasgow wieder einmal gezeigt, dass die Welt noch sehr weit von einem international abgestimmten Handeln entfernt
- Fachleute wie Prof. Ottmar Edenhofer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung halten daher ein deutliches Verfehlend des 1,5 °C Ziels für das wahrscheinlichste Szenario. Die Folge dürfte eine sinkende Motivation bei der Unterstützung teurer Klimaschutzmaßnahmen auch in den Vorreiterstaaten sein.
Der Weg in Richtung Klimaneutralität ist in den nächsten Jahren mit hoher Unsicherheit und Komplexität verbunden. Unternehmen sehen sich konfrontiert mit einem höchst ambitionierten Zeitplan, einer Vielzahl an nationalen und europäischen Gesetzen und Verordnungen, mangelhafte Vorlaufzeit und Stabilität politischer Entscheidungen sowie wettbewerbsverzerrenden staatlichen Eingriffen wie Subventionen und Strafzahlungen. Auch besteht die Gefahr, dass Unternehmen, in Verkennung der globalen Nachfrageentwicklung, in national hochsubventionierte Märkte investieren, die international bis auf weiters jedoch keine Erträge abwerfen.
Die Herausforderungen sind enorm. Dekarbonisierung und Kreislaufwirtschaft betreffen nicht nur die Prozesse im Unternehmen vom Fuhrpark über die Energieversorgung bis hin zur Abfallbeseitigung, sondern in gleichem Maße die Wettbewerbsfähigkeit des aktuellen Produktportfolios. Den hiermit verbundenen erheblichen Risiken stehen aber auch große Chancen gegenüber. Nachhaltige Nachfolgeprodukte zu finden und deren Entwicklung im richtigen Moment anzustoßen, wird zukunftsentscheidend. Unternehmen müssen strategisch weitsichtig hinterfragen, was und wie produziert werden soll. Sie dürfen vor neuen Technologien, Geschäftsfeldern und Allianzen nicht zurückschrecken. Dies ist die Mutter der Disruptionen.
Die Größe der Herausforderung schreibt das deutsche Klimagesetz vor. Es sieht eine Reduzierung der CO2-Emissionen der Industrie bis 2030 von 37% bezogen auf 2019 vor nachdem in den Jahren seit 1990 bis heute die Emissionen bereist schon einmal um ca. 40% verringert wurden. Hierfür standen jedoch 30 Jahre zur Verfügung. Die tiefhängenden Früchte sind geerntet. Ob, mit welchen Technologien und zu welchen Kosten die 2030-Ziele zu erreichen sind, ist aktuell noch unklar. Ökostromeinsatz und Energiesparen werden nicht ausreichen. Intelligentes Energiemanagement durch Digitalisierung, Eigenstromerzeugung und Kompensation durch CO2-Emissionsminderungsprojekte im Ausland sind, um nur zwei Beispiele zu nennen, weitere Bausteine.
In derartig herausfordernden Situationen hat sich der stetige, vertrauensvolle Erfahrungsaustausch nicht miteinander konkurrierender Unternehmen bewährt. Aktuell entsteht ein Netzwerk Dekarbonisierung und Kreislaufwirtschaft, in dem sich 10 bis 15 überwiegend mittelständische Unternehmen vier Mal im Jahr über Neue Technologien, bevorstehende Verordnungen und Gesetze sowie die eigene Vorgehensweise austauschen. Hierzu werden Fachreferenten eingeladen und Umsetzungsbeispiele vorgestellt. So werden notwendige Kompetenzen auf den durch die Teilnehmer vorgegebenen Themengebieten schrittweise zielstrebig erarbeitet, die Umsetzung beschleunigt und die Kosten gesenkt. Interessenten melden sich bitte bei Perspektiven-Begemann@t-online.de.
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Quellen:
1 Der Koalitionsvertrag ist unter anderem zu finden auf
https://www.fdp.de/sites/default/files/2021-11/Koalitionsvertrag%202021-2025_0.pdf
2 Carbon Leakage bezeichnet die Verlagerung von CO2-Emissionen in Drittstaaten, die nicht unter das Europäische Emissionshandelssystem fallen. Die im Nicht-EU-Staat entstehenden Emissionen sind häufig wegen geringerer Energieeffizienz höher als die Minderung im EU-Staat.
3 Im Rahmen ihres Green Deals plant die EU-Kommissionen dazu einen Grenzausgleich (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM) auf Emissionen von importieren Industrieprodukten, wenn diese aus Regionen mit geringerem CO2-Preisniveau stammen (EC, 2019). Die Einführung eines Grenzausgleichsmechanismus wird handelspolitische Implikationen mit sich bringen. Sollten die Handelspartner die Grenzabgaben als protektionistisch motivierte Maßnahme bewerten, könnten sie eine Klage vor der Welthandelsorganisation WTO erheben und Vergeltungsmaßnahmen einleiten.
4 Fünf Grundsätze für eine wirksame Klimapolitik. Ulrich Begemann, August 2021, zu beziehen über Perspektiven-Begemann@t-online.de
5 Net Zero Deutschland, Chancen und Herausforderungen auf dem Weg zur Klimaneutralität 2045, McKinsey 2021, https://www.mckinsey.de/~/media/mckinsey/locations/europe%20and%20middle%20east/deutschland/news/presse/2021/21-09-10%20net%20zero%20deutschland/mckinsey%20net-zero%20deutschland_oktober%202021.pdf
6 Konjunkturbericht, Potenzialwachstum kommt in die Jahre, Kieler Konjunkturberichte Mittelfristprojektion, Nr. 60 (2019 | Q3)
https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/kieler-konjunkturberichte/2019/potenzialwachstum-kommt-in-die-jahre-13167/
Dipl.-Ing. Ulrich Begemann
Der Autor hat sich mehr als ein Jahrzehnt intensiv in leitender Position mit Innovationsmanagement, Unternehmensstrategie, Klimaschutztechnologie, -ökonomie und -politik beschäftigt. Er ist unabhängig.
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